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Reizmangelzustände vermeiden – Reaktionen auf sensorische Deprivation

Inhaltsverzeichnis

Reizmangelzustände sind neben anderen Auslösern nicht nur ursächlich für Verwirrtheitszustände, sondern werden unter totalitären Regimen auch gern als gezieltes Mittel zur Gehirnwäsche eingesetzt. Als Sensorische Deprivation wird der Entzug (Deprivation) von sensorischen Reizen (also Sinneseindrücken) bezeichnet. Gleichzeitig ist Reizarmut als wesentliches Gefahrenelement für die Entstehung eines akuten Delirs zu vermuten. In der Pflege spricht man auch von der Pflegediagnose „Sensorische Deprivation“.

Alte Menschen sind hinsichtlich ihrer Anpassungsfähigkeit (Coping) neuen Belastungen (Stress) nicht mehr in gleicher Weise gewachsen wie junge Menschen. Sie sind also empfindlicher dafür, bei spezifischen Belastungssituationen zu dekompensieren. Eine besondere Anpassungsleistung wird vom alten Menschen zum Beispiel gefordert, wenn es zu einer Einweisung in ein Krankenhaus kommt. Es ist bekannt, dass Wahrnehmungsstörungen alter Menschen als Folge natürlicher Alterungsprozesse und / oder akuter und / oder chronischer Erkrankung Verwirrtheitszustände begünstigen. Seh- und Hörbehinderung, Störungen der Oberflächen- und Tiefensensibilität, Bewegungseinschränkung, ungünstige Umgebungsfaktoren und ungenügende Hilfsmittel sowie mangelnde Anregung erhöhen das Risiko.

In dem „Einsamkeitsexperiment“ britischer Wissenschaftler hat man die Auswirkungen sensorischer Deprivation beobachtet und 2010 in einem Filmbeitrag der BBC zusammengeschnitten. Der gezielte Reizentzug von sechs Freiwilligen, die genau 48 Stunden in einem dunklen Raum ohne Licht und ohne Geräusche und teilweise ohne Tastmöglichkeit verbrachten, entsprachen denen von Isolationshaft mit nachhaltigen Folgen auf die „zentrale Exekutive“ des Gehirns. In den Tests vor und nach dem Experiment zeigten sich bei allen Probanden deutliche Einbußen beim Erinnerungsvermögen und der Konzentration. Darüber hinaus zeigten insbesondere die männlichen Teilnehmer eine deutlich erhöhte Manipulierbarkeit. Während der Isolation konnte der Fernsehzuschauer beobachten, wie sie Selbstgespräche führten, im Raum hin- und her gingen und unter dieser Dunkelheit und Stille litten. Nach wenigen Stunden bereits hatten einige von ihnen bereits optische Halluzinationen.

In der Erzählung „Schachnovelle“ von Stefan Zweig berichtet einer der Hauptakteure, der von den Nazis zu Verhörzwecken über Monate in einem Hotelzimmer isoliert wurde, was bei bewusst herbeigeführten, länger andauernden Reizmangelumgebungen im Geiste passiert. Die „subtilere Weise“, mit der „Druck auf die menschliche Seele“ ausgeübt wird, führt zu einer veränderten Wahrnehmung, zu Manipulierbarkeit und Folgeschäden wie sie dann bei dem Schachspieler in der Erzählung eindrucksvoll wieder gegeben wird.

Der Entzug von Sinnesreizen kann schon nach wenigen Tagen zu schweren Störungen führen. Als Folge steigt bei den betroffenen Personen das Verlangen nach Sinnesreizen und Körperbewegung. Je länger dieser Zustand der Deprivation andauert, desto mehr lassen sich Störungen des normalen Denkablaufs, Konzentrationsschwäche, depressive Verstimmungen und auch Halluzinationen beobachten. Nach dem Erleben von Reizmangelzuständen zeigen die Betroffenen eine deutlich erhöhte Suggestibilität.

Hier die Definition aus dem Buch „Handbuch Pflegediagnosen“ von Marjory Gordon:
Veränderte Sinneswahrnehmung: reizarme Umgebung oder sensorische Deprivation
Definition: Ein Verminderung der Umweltreize und sozialen Stimuli im Vergleich zum gewohnten Maß an Außenreizen.

Kennzeichen (Zeichen & Symptome):

  • Wachheitszustand mit regelmäßig auftretender Des­orientierung, allgemeiner Verwirrung, oder nächtlicher Verwirrung
  • Halluzinationen
  • Teilnahmslosigkeit, Apathie
  • Verminderte oder fehlende akustische, visuelle, realitätsorientierende, oder zeitorientierende Außenreize
  • Begrenzte propriozeptive, aus dem eigenen Körper vermittelte Wahrnehmungen
  • Bestehende nicht kompensierte Hör‑ und Seheinschränkungen

Ätiologische oder damit in Verbindung stehende Faktoren:

  • Isolierung (eingrenzende, restriktive Umgebung)
  • Therapeutisch restriktive Umweltbedingungen (zu spezifizieren: Isolierung, Intensivpflege, Bettruhe, Extension, behindernde Erkrankung, Inkubator)
  • Sozial eingeschränkte Umgebung (zu spezifizieren: Institutionalisierung an das Haus gebunden sein, Altersschwäche, Kleinkind‑Deprivation)
  • Nicht kompensierte Hör‑ und Seheinschränkungen
  • Beeinträchtigte Kommunikation

Grundsätzlich ist niemand davor gefeit, in Folge von unbeabsichtigten oder bewussten Reizmangelzuständen die beschriebenen Symptome wie Halluzinationen, Suggestibilität und allgemeine Verwirrtheit zu entwickeln. Allerdings ist die Reizschwelle bei alten und demenzkranken Menschen deutlich niedriger und erfordert gezielte Gegenmaßnahmen. Die Umgebungsgestaltung in Einzelzimmern, in denen Pflegebedürftige sehr oft lange Zeiten am Tag zubringen, ist sicherlich eine besondere Aufgabe von Pflegeteams. Wie die Experimente der letzten Jahrzehnte zeigen, brauchen von Pflege und Zuwendung abhängige Menschen ein gewisses Maß an Reizen und Kontakt.

Unser Gehirn verlangt danach, herausgefordert und stimuliert zu werden. Ein Zuwenig an äußeren Reizen, veranlasst das Gehirn zu Gegenmaßnahmen. Der schwerhörige alte Mensch wird nicht Gehörtes eines Satzes selber füllen, bis der Satz (für ihn) Sinn ergibt. Dabei muss der gegebene Sinn nicht mit dem geäußerten Sinn des Kommunikationspartners übereinstimmen. Missverständnisse und soziale Isolation können folgen. Die Gefahr der Vereinsamung wächst.

Auch der Wahnbildung ist Tür und Tor geöffnet. Aber auch bei Menschen mit stark eingeschränkter Sehleistung kann es  zu visuellen Trugwahrnehmungen kommen, ohne dass eine akute psychiatrische Erkrankung im eigentlichen Sinn vorliegt (Charles-Bonnet-Syndrom).

Ein Patient, der postoperativ oder im Einzelzimmer einer Pflegeeinrichtung gezwungen ist, stundenlang die weiße Decke mit den Lochplatten anzustarren und auch sonst keinerlei Reize erhält; er liegt auf einer Weichlagerungsmatratze, ist stark mobilitätseingeschränkt, schwerhörig, ohne Brille und auch Licht und Temperatur zeigen kaum Schwankungen. Was wird er tun? Irgendwann wird er vielleicht die Lochplatten an der Decke zählen; sich ärgern, dass er sich verzählt hat und anfangen mit sich selbst zu sprechen. Vielleicht versucht er in den kleinen Löchern der Decke ein Muster zu bilden, ein Gesicht eine Tierform oder Buchstaben? Irgendwann wird ein kleiner, kaum merklicher Fleck sich bewegen. „War das eine Spinne? Ja – da! Sie bewegt sich.“ Das wird ihn beunruhigen und möglicherweise beginnt er zu rufen.

Was passiert hier? Das Gehirn erhält keine oder nur monotone Reize, es fehlen Informationen und Erklärungen. Das Gehirn fängt an, sich selbst zu stimulieren. Je nach Typ kann sich diese Selbststimulation des Gehirns in unterschiedlicher Weise zeigen.

  • Optische Selbststimulation
    Dermatozoenwahn (die Vorstellung von kleinen Tieren und Parasiten auf und unter der Haut)
    illusionäre Verkennungen (Fehlwahrnehmung)
    Halluzinationen (Wahrnehmung von Dingen die real nicht existieren, aber als real erlebt werden)
  • Akustische Selbststimulation
    Stimmenhören (akustische Halluzinationen)
    ständiges Rufen
    Summen
  • Motorische Selbststimulation
    Nesteln
    Schaukelbewegungen
    Wandern

All diese Phänomene lassen sich bei Menschen mit Demenz als herausforderndes Verhalten beobachten. Sie sind allerdings nicht allein der wenig angepassten Umgebung geschuldet, sondern lassen sich oft auch nicht verhindern.  Zwar können Reizmangelzustände Verwirrtheitssymptome triggern, aber es gilt auch immer zu würdigen, inwieweit diese im Kontext einer kognitiven Retrogenese mit befeuert werden.

Ebenso wie Reizmangel kann vor dem Hintergrund einer dementiellen Erkrankung auch Reizüberflutung genau diese Symptome provozieren.  Hier gilt es – und das ist wahrlich eine Kunst! – das richtige Mischungsverhältnis von Reizangebot und Reizbedarf im Pflegealltag zu kreieren. Pflegerische und Betreuungsangebote müssen sich also – ähnlich und umgekehrt proportional  wie bei der Entwicklung von Kindern – an den Entwicklungsphasen der fortschreitenden Demenz anpassen.

Michael Thomsen ist seit 1998 Fachkrankenpfleger für Geriatrische Rehabilitation mit langjährigen und grundlegenden Erfahrungen und Kenntnissen im Bereich der Pflege von Menschen mit altersassoziierten Erkrankungen wie Schlaganfall und Demenz. Die Erfahrungen im direkten Kontakt mit Bewohnern und Angehörigen sowie die Sachzwänge der professionellen Pflege haben ihn empfänglich gemacht für kreative und pragmatische Lösungen. Seit 2010 ist er ausgebildeter Heimleiter, Dozent und Autor diverser Fachartikel rund um die Themen Pflege und Demenz. Als ausgewiesener Pflegeexperte mit Erfahrungen in der stationären Altenhilfe legt er besonderen Wert auf der wissenschaftsbasierten Organisation von pflegerischen Dienstleistungen im Sinne einer pragmatischen Verknüpfung von Theorie und Praxis.
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