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Von | 25. Juni 2017

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Das von der Regel Abweichende springt uns immer gleich ins Auge. Es entsteht ein Störgefühl. Wenn wir es mit demenzerkrankten Menschen zu tun haben, dann passiert das immer wieder. Und instinktiv suchen wir die Regel und drängen auf die Einhaltung. Das Störgefühl bleibt. Aber indem wir das Äußere, das abweichende Verhalten wahrnehmen, verdrängen wir das eigene Erleben, machen es uns nicht bewusst. Und oft fehlt uns der richtige Ausdruck dafür, was wir da so diffus erleben oder nicht in Einklang bringen können, weil wir es uns nicht zur Sprache zu bringen trauen.

Das abweichende Verhalten fällt auf, es wird zur „Verhaltensauffälligkeit“. So sprachen wir in der Pflege im getreuen Gefolge zur Medizin lange Jahre von den „Verhaltensauffälligkeiten“. Die waren nämlich nicht bei uns, sondern bei dem anderen, bei dem Objekt, dem Gegenstand, unserer Pflege. Wir blieben davon abgekoppelt, auf Distanz gewissermaßen. Die Frage muss erlaubt sein, ob DAS wirklich professionelle Distanz ist? „Was macht es mit uns?“ durfte keine Frage sein, sonst galt man als unprofessionell oder gar als nicht belastbar. Die professionelle Distanz war gefragt, nicht professionelle Nähe. Und Sie merken schon: Wir kamen gar nicht auf den Gedanken, dass unsere Nähe zum Patienten, zum Kranken professionell gestaltbar sein könnte – ja musste. Wie professionelle Nähe aussehen kann, wie dem herausfordernden Verhalten von Menschen mit Demenz professionell begegnet werden kann, das ist nicht eine Frage der Distanz, sondern des Wissens um die Nuancen und Erforderlichkeiten von Nähe und Distanz im Umgang mit Demenz. Der Profi weiß, dass er nicht Objekt der Attacke ist; er nimmt es nicht persönlich, sondern bleibt auf dem Weg des Verstehens. Was offenbart ihm der Mensch mit Demenz? Welcher Grad von Nähe oder Distanz braucht die Kommunikation im Hier und Jetzt?

Die Verhaltensauffälligkeit steht uns gegenüber. In trauter Eintracht zur Medizin galt es zu „be-handeln“.  Die Orientierung galt dem Normalen, dahin musste die Reise führen. Für das Aushalten des Abweichenden nahmen wir Begriffe wie „Toleranz“ und „Das könnte ich nicht!“.  Für das Einfühlen und Mitgehen war keine Zeit, kein Raum. Am Ende blieb immer das Störgefühl – ohne dafür einen Namen zu haben. Das nahmen wir mit nach Hause und tankten neue Kraft vor dem nächsten Be-handlungstag.

Erst in den letzten Jahren sprechen wir in der professionellen Pflege nicht mehr von Verhaltensauffälligkeiten, sondern von „herausforderndem Verhalten“ Scheinbar setzt sich die Erkenntnis durch, dass die Abweichung vom Erwartbaren durchaus tragbar ist und nicht allein dem Verursacher angelastet werden kann oder muss. Nein – wir akzeptieren, dass es auch was mit uns macht und nennen es Herausforderung. Weil wir an den Grenzen unserer Behandlungsversuche angekommen sind. Die Medizin überlässt uns nun das Feld.

Wir sind in unserer Pflege-Profession herausgefordert. Wenn ein anderer „sich verhält“, muss ich mich auch (irgendwie) verhalten.  Hier beginnt das Pflänzchen zu wachsen.  Pflegende begreifen nach und nach, dass sie in Kommunikation mit anderen Menschen treten und dass sie gestalten können – ja müssen.  Zunächst als reine Frage der Kommunikations-Technik betrachtet, wuchs erst allmählich die Einsicht:

Kommunikation ist da, wenn Reaktion erfolgt und es kommt vor allem auf eine gewisse Haltung an! Wir Pflegenden erkennen zunehmend den eigenen Anteil, den möglichen Trigger in dem, wie wir selber wirken.  Achtsamkeit ist gefragt. Was bewirkt der andere bei mir und ich bei ihm? Dazu ist also Reflexion erforderlich, Introspektion zudem, und das ist anstrengend, weil es vor allem „Gefühlsarbeit“ ist, ein Eingeständnis: „Ja  – ich fühle!“, ein ständiges Suchen, das sehr viel Kraft kostet! Leider sind die Rahmenbedingungen in der Pflege nicht so, dass die organisatorischen Erforderlichkeiten und Zeitfenster hier versagen. Die betriebswirtschaftliche Sichtweise findet keinen Anknüpfungspunkt dafür, dass die investierte Zeit für Besprechung, Reflexion und Supervision der pflegerischen Beziehungsarbeit als nachhaltiger Kostensenker (weniger krankheitsbedingte Ausfälle, höhere Mitarbeiterzufriedenheit) und Effizienzsteigerer (verbesserte Lebensqualität, weniger risikobedingte Folgeschäden wie zum Beispiel durch Stürze oder Hinlaufen) fungieren könnte.

Indem wir Pflegenden von „herausforderndem Verhalten“ sprechen, bekennen wir uns als „Profis“. Wir haben einen Job, nämlich Beziehung zu gestalten. Und Gestalten bedeutet nicht einfach Reaktion, sondern geht weit darüber hinaus. Es ist der zunächst bewusste und später routinierte Prozess der Beziehungssteuerung. Dazu sind wir herausgefordert. Wir weisen uns selbst eine Verantwortung für das Gelingen von Interaktion im Pflegeteam zu und können nicht weiter die Schuld für Misslingen allein dem Abweichler bzw. dessen Erkrankung zuschreiben.

Der demenzkranke Mensch, der allmählich die Welt der Rationalität und der Beherrschbarkeit verliert, braucht uns nicht als Dompteur seiner aufbrechenden Gefühle, sondern als Begleiter und vielleicht als Lenker und im Idealfall verstehen wir, was da gerade „treibt“. Gemeinsames Ziel ist nicht länger Einhaltung der Regeln oder Nutzen für die Gesellschaft, sondern gelingende Lebenspraxis und die darf auch zweckfrei sein oder voll lebendiger Gefühle.

Wichtig ist, dass es dem Pflegenden immer wieder gelingt, festen Boden unter die Füße zu bekommen, denn er wechselt ständig in unterschiedlichen Welten hin und her. Nachdem er in die Welt der Irrationalität eingetaucht war und dort mitschwamm, muss er immer wieder zurückfinden in die Welt der Funktionalität. Und beide Welten erfordern unterschiedliche Kompetenzen und gerade das Hinübergehen in die Welt der „Verrücktheit“ will gelernt sein.

Nun gibt es in der professionellen Arbeit mit demenzerkrankten Menschen klare Begrifflichkeiten. Begrifflichkeiten machen – wie das Wort „greifen“ ja nahe legt – etwas fassbar, handhabbar, so dass man damit besser umgehen kann.  Allerdings hat sich in der Pflege noch nicht überall eine klar differenzierte Sprache ausgebildet. So sprechen viele Pflegekräfte davon, dass ein Patient oder Bewohner „verwirrt“ sei.  Leider meinen sie damit aber meistens nicht Verwirrung, sondern Desorientierung.

Und Pflegekräfte neigen in ihrer Nähe zur Medizin dazu, vorschnell Begriffe wie (analog) Diagnosen zu verwenden, anstatt einfach zu beschreiben, was ihnen widerfährt oder was sie wahrnehmen. Es braucht mithin zur Ausübung des Pflegeberufs unbedingt einer besonderen sprachlichen Kompetenz.

Lesen Sie hierzu den Blogartikel: Die vier Nadelöhre – Pflege richtig dokumentieren.

 


Bildnachweis: JackF – stock.adobe.com

Michael Thomsen

Michael Thomsen ist seit 1998 Fachkrankenpfleger für Geriatrische Rehabilitation mit langjährigen und grundlegenden Erfahrungen und Kenntnissen im Bereich der Pflege von Menschen mit altersassoziierten Erkrankungen wie Schlaganfall und Demenz. Die Erfahrungen im direkten Kontakt mit Bewohnern und Angehörigen sowie die Sachzwänge der professionellen Pflege haben ihn empfänglich gemacht für kreative und pragmatische Lösungen. Seit 2010 ist er ausgebildeter Heimleiter, Dozent und Autor diverser Fachartikel rund um die Themen Pflege und Demenz. Als ausgewiesener Pflegeexperte mit Erfahrungen in der stationären Altenhilfe legt er besonderen Wert auf der wissenschaftsbasierten Organisation von pflegerischen Dienstleistungen im Sinne einer pragmatischen Verknüpfung von Theorie und Praxis.

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