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Von | 15. November 2017

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Der im Auftrag der Vertragsparteien nach § 113 SGB XI durch das DNQP entwickelte und konsentierte Expertenstandard „Erhaltung und Förderung der Mobilität“ wurde im Juni 2014 an den GKV-Spitzenverband übergeben. Der in der Erprobung befindliche Expertenstandard ist wohl der umfassendste bisher, da er gewissermaßen das Kernthema der Pflege behandelt. Die Beachtung bzw. Umsetzung dieses Standards berührt fast alle pflegerischen Themen und Notwendigkeiten. Die Interdependenzen sind zahlreich und bilden etliche Schnittmengen zu anderen Expertenstandards!
Es geht um die „Eigenbewegung des Menschen mit dem Ziel, sich fortzubewegen oder eine Lageveränderung des Körpers vorzunehmen“, und zwar im Liegen und Sitzen, beim Aufstehen und Umsetzen (Transfer) sowie beim Gehen und Treppensteigen.
Das Ziel des Standards ist es, dass jeder pflegebedürftige Mensch eine Unterstützung erhält, die zur Erhaltung und/oder zur Förderung der Beweglichkeit beiträgt.

Die sowohl intrinsische (Erkrankungen) wie extrinsisch (z.B. FEM) begründete Bewegungseinschränkung birgt hohe Risiken und Gefahren und ruft in der Regel prophylaktische Maßnahmen auf den Plan wie

  • Dekubitusprophylaxe
  • Kontrakturenprophylaxe
  • Sturzprophylaxe
  • Pneumonieprophylaxe
  • Thromboseprophylaxe
  • Parotitisprophylaxe
  • Osteoporoseprophylaxe etc.

Es kann im Zuge von akuten wie chronischen Erkrankungen sehr rasch zu einer Einschränkung der Lebensqualität und Autonomie kommen. Am Ende der Kette droht Ortsfixierung und Bettlägerigkeit. Gemeinsames Ziel aller pflegerischen Interventionen sollte es sein, Ortsfixierung und Bettlägerigkeit im Sinne von Angelika Zegelins Einteilung möglichst lange zu vermeiden.

Bei schweren chronischen Erkrankungen gilt es, einen manchmal unausweichlichen Verschlechterungs-Prozess – wenn eine Verbesserung der Mobilität nicht mehr möglich oder sehr unwahrscheinlich scheint –  aufzuhalten oder zu verlangsamen.

Wie bei allen Expertenstandards wird nach Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität differenziert. Die Strukturqualitätsmerkmale beschreiben, was die Pflegeprofis bzw. deren Institutionen an Materialien, Rahmenbedingungen, Kenntnissen und Kompetenzen speziell zur Einschätzung der Gefahrenpotentiale und zur konkreten Beschreibung der Probleme und Ressourcen brauchen. Die Merkmale der Prozessqualität beschreiben, was eine professionelle Pflegekraft tun muss oder kann. Die Ergebnisqualität beschreibt, ob Maßnahmen und Strukturelemente zu einer Verbesserung oder Erhaltung der Mobilität bzw. der Lebensqualität geführt haben.

Die Pflegekräfte können auf eine Vielzahl von Einschätzungsinstrumenten zurückgreifen. Der Expertenstandard verzichtet leider darauf, konkret Assessments zu empfehlen, sondern überlässt die Entscheidung hier der Expertise der Pflegenden.


Zunehmend wichtiger wird es für Pflegefachkräfte, wenn man sich den Expertenstandard anschaut, den Mobilitäts-Status von Pflegebedürftigen nicht nur richtig einzuschätzen, sondern noch mehr, ihn auch adäquat und möglichst in einer einheitlichen Fachsprache zu beschreiben.

Eine genaue und nachvollziehbare Bewegungsbeschreibung in Pflegeanamnesen und -berichten fällt den Pflegenden oft schwer. Zwar findet man in Pflegeplänen Listen von Problemen in Zusammenhang mit der Mobilität der Pflegebedürftigen, aber selten lässt sich aus der Dokumentation der konkrete Mobilitätsstatus, das Wie und Wodurch von Mobilisierungsmaßnahmen nachvollziehbar herauslesen.

In diesem Zusammenhang dürften die Aussagen des neuen Expertenstandards tatsächlich eine Qualitätsverbesserung bewirken. So sollen die Ergebnisse der Einschätzung in allen genannten Dimensionen in übersichtlicher Form zusammenfassend dokumentiert werden. Folgende Punkte gilt es zu beschreiben:

Beispiele

Früherer und aktueller Status der Mobilität: „Noch vor acht Wochen am Rollator   sichergegangen, seit zwei Wochen auf Begleitung   angewiesen, da….“Ortsfixiert, bettlägerigBeschreibung des Transfers
Wichtige körperliche, kognitive und psychische Beeinträchtigungen, die als hinderlich für Maßnahmen zur Erhaltung und Förderung von Mobilität anzusehen sind: Parkinson
NeglectAngst vor Stürzen
Übergewicht
Sehbehinderungen, Erblindung
Schmerzen
Wichtige körperliche, kognitive und psychische Ressourcen, die als besonders förderlich für Maßnahmen zur Erhaltung und Förderung von Mobilität anzusehen sind: Stark motiviert,hält sich an Absprachen,nutzt adäquat Klingelrufanlage
positive GrundeinstellungCompliance
Relevante Umgebungsfaktoren und die Art ihrer Wirkung (mobilitätsfördernd/mobilitätshemmend): kleines Zimmer
langer Weg zur Toilette
Besonderheiten, beispielsweise besonders wichtige krankheits- und therapiebedingteEinflüsse oder individuelle Risiken für einen (weiteren) Mobilitätsverlust: OsteoporoseMarcumarpatient*inKontrakturen
Medikamenteneinnahme (Psychopharmaka)
Hinweise auf den individuellen Beratungsbedarf des*r Pflegebedürftigen und Angehörigen aus der Sicht der Pflegefachkraft: TrochanterschutzhoseHilfsmittelempfehlungTrainingsangebote
Benennung möglicher Ansatzpunkte zur Mobilitätsförderung, die sich aus der Einschätzung ergeben (z. B. Benennung der Fähigkeiten, die zielgerichtet trainiert werden könnten, Veränderungen der Umgebungsgestaltung, Hilfsmitteleinsatz, Information oder Beratung): Kann Klingel selbst bedienennutzt den Rollator
kann Arme zum Bewegen der Rollstuhlräder   nutzen…

 

Hinsichtlich der Beschreibung des Mobilitäts-Status werden zu folgenden Umgebungsbedingungen (Settings) Aussagen erwartet:

  • Lagewechsel in liegender Position
  • Halten einer aufrechten Sitzposition
  • Transfer (aufstehen, sich hinsetzen, sich umsetzen)
  • Fortbewegung über kurze Strecken (Wohnräume)
  • Treppensteigen

Im Rahmen des neuen Begutachtungsverfahrens (NBA) fragen die Prüfer des MDK diese Positionen einzeln ab und bewerten sie jeweils anhand der folgenden Kriterien:

  • Selbstständig 0 Punkte
  • Überwiegend selbstständig 1 Punkte
  • Überwiegend unselbstständig 2 Punkte
  • Unselbstständig 3 Punkte

Die Pflegekräfte sollten in der Lage sein, zu den fünf Punkten die jeweilige Selbstständigkeitsstufe angeben und genau beschreiben zu können.

Im Altenpflegebereich wird es im Vergleich zur Gesundheits- und Krankenpflege weniger um Förderziele und Therapie gehen, als darum, ein Abrutschen in einen höheren Grad der Unselbstständigkeit zu verhindern oder möglichst lange hinauszuzögern. Paradox ist hier nur die Tatsache, dass ein Aufschieben mit viel Aufwand verbunden sein kann, der nicht durch die bessere Honorierung durch einen höheren Pflegegrad belohnt wird. Oder gar die Verbesserung des Mobilitätsstatus einhergeht mit einer Herabstufung in einen niederen Pflegegrad, was am Ende einer Kürzung des Personalstellenpools gleichkäme. Vielfach finden Pflegekräfte also in der Begutachtungspraxis eben gar keinen Anreiz pflegefachlich tätig zu bleiben.

 

Im Expertenstandard heißt es zur Strukturqualität unter S4:

„Die Einrichtung verfügt über personelle, materielle und räumliche Ressourcen für ein zielgruppenspezifisches Angebot mobilitätserhaltender und –fördernder Maßnahmen sowie für eine mobilitätsfördernde Umgebungsgestaltung.“
Das muss bedeuten, dass Pflegeheime in ihrer Investitionskostenplanung stets prüfen, ob die Pflegenden ausreichend Hilfsmittel zur Verfügung haben, um Angebote zu machen oder zumindest Alternativen zu erproben, beispielweise, wenn es darum geht bewegungs- oder freiheitseinschränkende Maßnahmen (FEM) zu verhindern.

Denn geteilte bzw. teilbare Bettseitenteile oder Beleuchtungssysteme und kreative Lösungen der Umfeldgestaltung können ebenso dazu beitragen, die Mobilität zu erhalten. Niedrigflurbetten können im Einzelfall eine Lösung darstellen. Aber auch Signalsysteme und Lagerungshilfsmittel können geeignete Hilfs-Mittel darstellen. Safe Bags, Walker, Trochanterschutzhosen, Anti-Rutsch-Matten, Weichlagerungsmatratzen, Sitzsäcke, Rollstuhltransportfahrzeuge, Strickleitern und sicher auch regelmäßige Kinästhetics-Schulungen und Fallbesprechungen der Pflegemitarbeitenden sind ebenfalls in diesem Punkt (S4) zu verorten.

Entscheidend aber wird sein, inwieweit es in Pflegeteams gelingt, bei Betrachtung alltäglicher Routinen eine Neubewertung oder Umdeutung vorzunehmen. So werden oft Hilfsmittel nicht nur wenig zielführend genutzt, sondern oft auch falsch darin eingewiesen. Beispiel: So sind Rollstühle sehr häufig genutzte Hilfsmittel, deren Nutzung aber von baulichen Gegebenheiten erschwert oder verhindert ist, oder die gar nicht der Fortbewegung, sondern vornehmlich als Sitzmöbel verwendet werden. Mögliche Ressourcen der Bewohner*innen wie Armeinsatz zum Bewegen der Rollstuhlräder oder der Beine zum „Tippeln“ kommen aus verschiedensten Gründen nicht zum Einsatz oder verkümmern.

Fazit:  Eine relativ geringe Anzahl rein bettlägeriger oder ortsfixierter Bewohner*innen einer Einrichtung dürfte eine positive Kennzahl im Hinblick auf die Pflegequalität darstellen.


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Lesen Sie hier mehr zu unserem E-Learning-Kurs des Monats: Expertenstandard – Beziehungsgestaltung bei Demenz.

Michael Thomsen

Michael Thomsen ist seit 1998 Fachkrankenpfleger für Geriatrische Rehabilitation mit langjährigen und grundlegenden Erfahrungen und Kenntnissen im Bereich der Pflege von Menschen mit altersassoziierten Erkrankungen wie Schlaganfall und Demenz. Die Erfahrungen im direkten Kontakt mit Bewohnern und Angehörigen sowie die Sachzwänge der professionellen Pflege haben ihn empfänglich gemacht für kreative und pragmatische Lösungen. Seit 2010 ist er ausgebildeter Heimleiter, Dozent und Autor diverser Fachartikel rund um die Themen Pflege und Demenz. Als ausgewiesener Pflegeexperte mit Erfahrungen in der stationären Altenhilfe legt er besonderen Wert auf der wissenschaftsbasierten Organisation von pflegerischen Dienstleistungen im Sinne einer pragmatischen Verknüpfung von Theorie und Praxis.

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