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Die vier Nadelöhre – bei Demenz richtig dokumentieren

Inhaltsverzeichnis

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Desorientierung ist die zwangsläufige Folge einer fortschreitenden Demenzerkrankung und Orientierungsstörungen nehmen im Verlaufe einer Demenzerkrankung zu. Mit Fortschreiten der Erkrankung wird die Desorientierung offenkundiger.

Während es sich bei der Desorientierung eher um eine Folge der verminderten Gedächtnis- und Intelligenzleistung handelt, ist die Verwirrtheit meist eine Bewusstseinsstörung in Folge von Mangelzuständen oder Vergiftungserscheinungen des Körpers. Im Rahmen der Demenz ist also Desorientierung „normal“, hingegen zeigt nicht jeder demenzkranke und zunehmend desorientierte Mensch Verwirrtheitssymptome. Allerdings ist seine Anfälligkeit (Vulnerabilität) dafür deutlich erhöht! Oft verbirgt sich hinter einer akuten Verwirrtheit ein Delir, eine vorübergehende Bewusstseinsstörung mit kognitiven Funktionsbeeinträchtigungen, in deren Verlauf:

  • Konzentrationsstörungen
  • Halluzinationen
  • psychomotorische Erregtheit
  • Störungen des Schlaf-Wach-Rhythmus
  • Affektlabilität
  • Aggressivität, aber auch
  • Rückzug von der Umwelt und
  • psychomotorische Verlangsamung sowie
  • Wahnvorstellungen (Delusion)
  • variabel auftreten können

Verwirrtheit ist gewissermaßen ein Leitsymptom für ein Delir und tritt in der Regel akut und plötzlich auf. Die Dauer kann von einigen Stunden, über Tage bis zu Wochen sein. In vielen Fällen sind Verwirrtheitsepisoden nur vorübergehend (reversibel) und wurden früher häufig auch gern als „Durchgangssyndrom“ bezeichnet.  In manchen Fällen besteht allerdings auch die Gefahr einer Chronifizierung mit nachhaltigen Folgen für das weitere (Zusammen)Leben. 

Sehr häufig finde ich in Berichten von Pflegenden folgende Aussagen:

  • „Bewohner ist aggressiv“
  • „Frau B. ist verwirrt.“

Manchmal werden diese Aussagen erläutert, nicht selten bleiben sie unkommentiert. Fakt ist aber, dass es sich bei solchen Aussagen im weitesten Sinne um Diagnosen handelt. Nun sind aber Pflegekräfte nicht vorrangig diejenigen, die Diagnosen stellen, sondern diejenigen, die dem Therapeutenteam und den Ärzt*innen fehlende Informationen geben, die sie im Zuge der pflegerischen Arbeit auf Grund ihrer Beobachtung erhalten und die den Ärzt*innen nicht unmittelbar zugänglich sind. In gewisser Weise sind sie die „Fürsprecher“ oder „Dolmetscher“ der Patient*innen.

Einerseits sollen Menschen, die (noch!) nicht (direkt) mit dem*r Gepflegten zu tun haben, sich ein anschauliches und umfassendes Bild vom Zustand und Verhalten machen können. Die Individualität und das Personsein des*r zu Pflegenden sollen deutlich werden, so dass Pflegende einen geeigneten Zugang finden können und wissen, mit welchen Schwierigkeiten er rechnen muss.

Andererseits dient der Pflegebericht der adäquaten Abbildung des Pflegeprozesses. Das heißt, es sollen Erfolge und Misserfolge geplanter Maßnahmen und Zielformulierungen zum Ausdruck kommen. Diese Auswertungsfunktion ist maßgeblich, um Pflegeprobleme bewältigen und Beziehungsprozesse gestalten zu können.

Anhand der Formulierungen können Rückschlüsse auf die Pflegequalität und den Professionalitätsgrad gemacht werden. Je präziser, anschaulicher und nachvollziehbarer sich die Pflegenden auszudrücken vermögen, um so besser sind Aussagen über ihre Fähigkeiten zur Empathie und Beziehungsgestaltung möglich. Im Rahmen routinierter Pflegeabläufe vergessen aber viele Pflegende vielfach, welche Zielsetzungen der Pflegebericht eigentlich verfolgt. Die Aussage: „Patient hat gut gegessen!“ beispielsweise ist denkbar ungeeignet, um einem Fremden oder einer Prüfinstanz deutlich werden zu lassen, wie und was der „Patient“ denn tatsächlich gegessen hat. Hat Herr Meyer mehr als sonst oder mehr als üblich oder besonders geschickt gegessen? Einem unvoreingenommenen, nicht „eingeweihten“ Leser des Berichts wird also kein wirklich anschauliches Bild vermittelt, die Person des Herrn Meyer bleibt blass und vollkommen austauschbar. Eine solche Aussage ist zwar vielleicht als Übergabefloskel geeignet, wenn sich also „Eingeweihte“ austauschen, die die Pflegeperson gut kennen und mehrfach mit ihr zu tun haben. Aber eine solche Aussage gehört keinesfalls in einen Pflegebericht. Dort ist eine andere sprachliche Kompetenz gefragt.

Grundsätzlich sollen die dort getätigten Aussagen dazu führen, dass jemand, der (noch) nicht mit dem*r Gepflegten zu tun hat, sich die Person sehr gut vorstellen kann. Eine perfekte Pflegedokumentation muss sich daran messen lassen, ob die Übernahme der Pflege anhand der bloßen Dokumentation jederzeit und ohne mündliche Übergabe problemlos und erfolgreich möglich ist, ob ein Unbeteiligter sich ein Bild machen kann. Die Formulierungen im Pflegebericht sollen unter anderem dem*r Arzt*Ärztin helfen, eine Diagnose zu stellen. Das heißt, dass er*sie die Diagnose stellt, und zwar auf der Grundlage der mündlichen und schriftlichen Aussagen des Pflegepersonals.

Und hier gelten ein paar einfache Regeln für die Abfassung des Pflegeberichts:

1. Es wird nur das beschrieben, was die Pflegekraft wahrgenommen (gesehen, gerochen, gefühlt, gehört) hat. Und zu dem Gehörten zählt beispielsweise auch das, was eine Person gesagt hat. Man kann und darf sie also zitieren.

2. Zum Wahrgenommenen zählt auch das Zitieren, dessen, was der Patient oder Bewohner gesagt hat in direkter oder indirekter Rede.

3. Es kann darüber hinaus das beschrieben werden, was die Pflegekraft gemessen (Gewicht, Temperatur, Trinkmenge, Beinumfang, objektive Daten, etc.) hat.

4. Wenn die Pflegekraft eine Empfindung, eine Vermutung oder ein Gefühl mitteilen möchte, dann kann sie das nur als solches mitteilen. Es ist also nicht verboten zu schreiben, dass man das Verhalten einer anderen Person als aggressiv EMPFINDET, aber dies muss eben als eigene EMPFINDUNG oder Vermutung kenntlich gemacht werden. Solche subjektiven Darstellungen haben beispielsweise die Form:

  • „Ich hatte den Eindruck, dass…“
  • „Ich hatte das Gefühl, dass …“
  • „Mir schien …“

Aber am besten ist es, dass man nur beschreibt, was man wahrgenommen oder gemessen hat. Und weil das gar nicht so leicht ist und ständig geübt werden muss, bezeichne ich diese vier Regeln auch als die „Nadelöhre“, durch die der Bericht hindurchmuss.

Ich bekomme in Fortbildungen häufig die Frage: „Aber Herr Thomsen, wenn der Patient doch aggressiv war, wie soll ich das dann schreiben?“ Dann frage ich immer zurück: „Was haben Sie denn erlebt? Beschreiben Sie doch mal, was Ihnen passiert ist!“ Und daraufhin folgt dann eine meist ganz passable Schilderung des Vorgangs und ich antworte: „Und warum haben Sie DAS nicht geschrieben?“

Gerne entgegnen mir dann die Kursteilnehmer*innen, das sei aber so lang und die Aussage „Bew. verhielt sich aggressiv.“ sei doch passend und im Zuge einer schlanken Dokumentation viel geeigneter. Ich glaube nicht, dass hier das Zeitproblem maßgeblich ist, sondern vielmehr die Ungeübtheit im Formulieren dessen, was so banal und alltäglich erscheint. Die Pflegedokumentation ist ja auch nicht dazu da, alles zu dokumentieren, sondern exemplarisch zu zeigen, was los ist. Wir wollen ein Bild des*r Bewohner*in oder Patient*in. Mehr nicht. Und dieses Bild sollte stimmig sein und nachvollziehbar und darf nicht durch subjektive Wahrnehmung oder Diagnosebegriffe wie „Verwirrtheit“ verstellt sein.

Noch einmal:  Ärzte und nicht Pflegekräfte stellen Diagnosen auf Basis unserer Beschreibungen und nicht auf Grund unserer Interpretationen. Gut, wir stellen auch Pflegediagnosen, aber auch erst, nachdem fachlich korrekt beschrieben wurde.

Wenn auf die Nachfrage, woran man die „Verwirrtheit“ eines Bewohners festmache, die Antwort folgt, dass er sein Zimmer nicht finde und/oder sein Spiegelbild nicht erkenne, dann ist dieser Bewohner nämlich erst einmal nicht verwirrt, sondern örtlich und zur Person desorientiert – mehr nicht! Daraus kann dann zum Beispiel folgen, dass ihm Orientierungshilfen gegeben werden oder man den Spiegel abhängt, weil man beobachtet, dass er dagegen boxt.

Äußert ein Bewohner oder Patient hingegen, dass Kühe in seinem Zimmer seien, die die Pflegekraft nicht wahrnimmt, dann zeigt er sicher Verwirrtheitssymptome im Sinne von Halluzinationen, die eine bestimmte Kommunikation erfordern. Oder er beschuldigt eine*n Pflegeende*n, ihn bestohlen zu haben, was aber objektiv nicht der Fall ist, dann kann das der Beginn einer Wahnvorstellung sein, wenn er trotz Korrektur weiterhin, womöglich höchst emotional, diese Behauptung aufrecht erhält.

Nicht zuletzt besteht bei übereilten Diagnosetiteln oder Zuschreibungen wie „Verwirrtheit“ durch das Pflegepersonal die Gefahr der Stigmatisierung. Vielmehr ist es unsere pflegerische Aufgabe (und moralische Verpflichtung), anderen ein eigenes Urteil zu überlassen. Pflegende sind Anwalt des Patienten oder des Bewohners und zu ihrer Fachlichkeit gehört eben besonders eine unvoreingenommene und möglichst klare, eindeutige Dokumentation.  Der Begriff „Verwirrtheit“ ist vieldeutig, die gelungene Beschreibung des Vorgangs ist eindeutig.

Michael Thomsen ist seit 1998 Fachkrankenpfleger für Geriatrische Rehabilitation mit langjährigen und grundlegenden Erfahrungen und Kenntnissen im Bereich der Pflege von Menschen mit altersassoziierten Erkrankungen wie Schlaganfall und Demenz. Die Erfahrungen im direkten Kontakt mit Bewohnern und Angehörigen sowie die Sachzwänge der professionellen Pflege haben ihn empfänglich gemacht für kreative und pragmatische Lösungen. Seit 2010 ist er ausgebildeter Heimleiter, Dozent und Autor diverser Fachartikel rund um die Themen Pflege und Demenz. Als ausgewiesener Pflegeexperte mit Erfahrungen in der stationären Altenhilfe legt er besonderen Wert auf der wissenschaftsbasierten Organisation von pflegerischen Dienstleistungen im Sinne einer pragmatischen Verknüpfung von Theorie und Praxis.
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