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Von | 11. Juli 2019

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Heute wieder ein Ausflug! Vielleicht eine gemütliche Altstadttour durch Amsterdam oder doch lieber in die Natur? Mal etwas anderes sehen, der vielleicht schlechten Laune, der Müdigkeit oder dem Alltag überhaupt einen Moment den Rücken kehren und mit dem Fahrrad Neues entdecken oder Vertrautes wiederfinden. Sich auf den Sattel setzen, per Knopfdruck ein schönes Ziel aussuchen und los geht‘s!

Bike Labyrinth ist ein Konzept, das als Studentenprojekt an der Universität Leiden in Holland für Senioren entwickelt worden ist. Es ist so einfach wie effektiv: Ein Bildschirm wird mit einem verfügbaren Home- oder Bewegungstrainer verbunden. Während man gemütlich strampelt, bewegt man sich durch Städte und Landschaften, kann ganz nach Belieben unterwegs anhalten oder an bestimmten Punkten die Richtung der Weiterfahrt selbst bestimmen. Geräusche von vorbeifließendem Verkehr und Passanten oder das Zwitschern von Vögeln vervollständigen den Eindruck, man sei an einem anderen Ort.

Die ansprechenden Bilder, die man ‚erfährt‘, sollen ganz nebenher die Lust an Bewegung fördern und langfristig ohne Stress die körperliche Kondition steigern (eine Tour dauert 15 – 20 Minuten); die rotierende Bewegung auf dem Hometrainer ist zudem gut für die Gelenke. Und auch das Gehirn spielt mit: Die interaktiven, virtuellen Touren können die geistige Fitness ein Stück weit trainieren.

In Holland ist Bike Labyrinth deshalb in mittlerweile ca. tausend Einrichtungen fester Bestandteil des Pflegealltags; es wird dort auch erfolgreich in der Betreuung von Menschen mit einsetzender Demenz verwendet, die damit in sicherer Umgebung auf Entdeckungsreise gehen können, in ihrem ganz eigenen Rhythmus. In Deutschland findet man Bike Labyrinth seit Beginn dieses Jahres (z.B. in einigen Krankenhäusern in Nordrhein-Westfalen); in etlichen Pflegeeinrichtungen werden zurzeit die Möglichkeiten dieses Konzepts ausgelotet.

„Würde und Stolz“

Vielleicht kein Zufall, dass die Idee in den Niederlanden ihren Anfang nahm und eine große Resonanz entfaltet hat. Die Situation in Alten- und Pflegeheimen hat sich in den letzten Jahren dort deutlich anders entwickelt als hierzulande. Mit der Aufstockung des Etats für die Pflege – unter dem Motto „Dignity and Pride“ -, dem Abbau von Hierarchien und Bürokratie, der Forderung nach besser ausgebildeten Arbeitskräften und mehr Freiwilligen haben sich die Bedingungen für Menschen, die Pflege benötigen, Stück für Stück verbessert. Im Zentrum steht nicht mehr nur der Anspruch, diese Menschen mit ausreichend Essen (und gegebenenfalls Medikamenten) sauber und warm unterzubringen – im Vordergrund steht der Mensch mit seinen individuellen Bedürfnissen. Dieser Ansatz funktioniert nicht nur wegen höherer finanziell verfügbarer Beiträge, sondern in erster Linie, weil den Menschen mit mehr Respekt sowie Anerkennung ihres Lebens begegnet wird.

Ein wichtiger Erfahrungswert dieser Herangehensweise: je besser und gezielter entsprechend ausgebildete Pflegende und Betreuer auf einzelne Bedürfnisse eingehen können, desto weniger unausgeglichen und aggressiv sind z. B. an Demenz erkrankte Menschen und dementsprechend geringer ist auch der Gebrauch von Medikamenten, die oft eingesetzt werden müssen, um sie „ruhig“ zu stellen und damit sich und andere nicht zu gefährden.

Bewegungstherapie mit Entdeckungsreise für höhere Lebensqualität

Einen respekt- und liebevollen Umgang mit Menschen, die in ihrem aktiven Dasein immerhin die Grundlagen für unser heutiges Leben geschaffen haben sowie Kommunikation zwischen den Generationen und die Förderung von größtmöglicher Lebensfreude, auch durch gezielte Aktivitäten und Bewegung, wünscht sich auch Anke Kunze.

Sie studierte in den Niederlanden Gesundheitspsychologie, bevor sie mit Bike Labyrinth in Kontakt kam. Begeistert vom Konzept filmte sie im Sommer 2018 Touren in Frankreich, Andorra, Spanien und Portugal. Und genauso überzeugt ist sie jetzt als Produktberaterin unterwegs, um die Idee in möglichst vielen Pflegeheimen und Behinderteneinrichtungen, Reha- und Dialysezentren und auch Krankenhäusern bekannt zu machen.

Bei Bike Labyrinth kann man sich z.Zt. aus 250 Orten und Gegenden (in Holland sind es sogar noch mehr) Strecken aussuchen, die man gerne fahren möchte. Auf die Frage, nach welchen Gesichtspunkten die Touren geplant und produziert werden, antwortet Anke Kunze:

„In erster Linie werden die Orte nach ihrem ‚touristischen Wert‘ ausgesucht, überall bekannte ‚Touristenmagnete‘ stehen ganz oben auf der Liste. Das hat damit zu tun, dass es vielen Senioren ungemein Spaß macht, Strecken zu fahren, wo sie vielleicht schon mal Urlaub gemacht haben, am Gardasee oder in Wien beispielsweise; sie können diese Orte noch einmal besuchen, auch wenn ihnen aufgrund ihrer momentanen Lebenssituation die nötige Mobilität fehlt. Andere schätzen die Möglichkeit, mit Bike Labyrinth Orte zu erkunden, an denen sie nie waren; es erfüllt ihnen Wünsche, wenn sie selbstständig und sicher durch Paris oder London radeln können. All das steigert die Lebensfreude von Menschen, die ansonsten vielleicht kaum noch ihr Pflegeheim verlassen können – nicht zuletzt auch, weil durch dieses Angebot immer neuer Gesprächsstoff entsteht und die Leute so zusammenbringt. Zusätzlich wird die Lust an der körperlichen Bewegung aufrechterhalten.“

Erfolg als Bewegungstherapie bei Demenz nachgewiesen

Dass Bike Labyrinth die Freude an körperlicher Betätigung allgemein steigert, weil die Kombination von ansprechenden Bildern und der nicht als lästig empfundenen Bewegung stark motiviert, ist besonders bei an Demenz erkrankten Menschen ein wichtiger Faktor. Dies wurde durch eine wissenschaftliche Studie des Universitätsklinikums Radboud UMC bestätigt. Die Wissenschaftler stellten, neben einer positiveren Auswirkung als bei herkömmlichen Bewegungstherapien, „eine moderate, jedoch signifikante Verbesserung der psychomotorischen Geschwindigkeit der Teilnehmer … fest. Möglicherweise ist dies klinisch relevant, da die psychomotorische Geschwindigkeit ein entscheidender Prädiktor für den Funktionsverlust ist.“ (https://www.bikelabyrinth.com/de/nachrichten/92/wirksamkeit-von-bike-labyrinth-wissenschaftlich-getestet).

Auch wenn dieser Effekt nur in einem frühen Stadium der Erkrankung zu beobachten ist, hat Anke Kunze doch ein positives Feedback aus etlichen Einrichtungen bekommen: “Je fortgeschrittener der Grad an Demenz ist, desto weniger können die Erkrankten natürlich mit den interaktiven Elementen – z. B. den Entscheidungsknöpfen – umgehen. Aber ich höre sehr oft, dass der Erinnerungseffekt eine große Rolle spielt; dass es als schön empfunden wird, wenn man beim Radeln ein Stück seines Lebens wiedererkennt und wiederentdeckt. In Demenzeinrichtungen sind daher bestimmte Touren sehr gefragt, wie z.B. Waldtouren oder eine Fahrt durch den Tierpark. Diese Touren sind vom Aufbau her nicht so komplex und etwas ruhiger gestaltet, sie überfordern die Menschen nicht. Schließlich soll die körperliche Bewegung den Demenzkranken Spaß machen.“

Individuelle Programme für das Wohlfühlen

In diesem Zusammenhang ist die seit Februar 2019 bestehende Möglichkeit eingebettet, Ortschaften selbst zu filmen und in das Programm von Bike Labyrinth zu integrieren: „Es gab Nachfragen von Leuten, die für ihre pflegebedürftigen Angehörigen spezielle Orte gesucht haben. Natürlich können wir nicht jedes Dorf abfahren, das würde den Rahmen unseres Unternehmens sprengen. Umso toller ist es, dass in Eigenregie nochmal eine Reihe von Filmen entstanden ist, die den individuellen Wünschen der jeweiligen Heimbewohner entgegenkommt. In Holland sind zu diesem Zweck in den letzten Monaten viele kleine Dörfer gefilmt worden, mit prägnanten Merkmalen wie Windmühlen oder anderen historischen Gebäuden.“

bewegung bei demenz mit bike labyrinth

Das ist dann doch die schönere Vorstellung: Die leicht verwirrte Oma muss auf der Suche nach ihren Erinnerungen nicht durch die Flure eines Wohnheims irren oder womöglich – mit Hilfe von Psychopharmaka – untätig und orientierungslos in einem Sessel hocken, sondern kann sich in einem geschützten Raum entspannt der Illusion hingeben, sie wäre wieder – wie früher – in ihrem vertrauten Dorf unterwegs, zum Einkaufen oder einfach nur zum Schauen.

 


Schauen Sie sich gern eine Vorschau unseres Kurses Expertenstandard – Beziehungsgestaltung bei Demenz an.

Hier finden Sie Vorschauen zu weiteren Expertenstandard-Kursen.

 


Bildnachweise: Robert Kneschke – stock.adobe.com; Bike Labyrinth

Susanne Diehm

Susanne Diehm ist Autorin und Bloggerin, Master of Creative and Biographical Writing, Kunst- und Kreativitätstherapeutin. Sie ist auf Initiative von Prof. Dr. Jalid Sehouli mit Schreibprogrammen zur Gesundheit an der Frauenklinik der Charité aktiv. Ihr Buch "Mit Schreiben zu neuer Lebenskraft" ist beim Kösel-Verlag erschienen. Darüber hinaus berät sie Kliniken, Rehas und andere Organisationen, wie sie das Schreiben als wirksames Instrument zur Gesundheitsförderung einsetzen können. An der Psychiatrie der Charité erhält sie die Förderung des Gesundheitsfonds für ein Konzept zur Entlastung und Stärkung von Mitarbeitern in der Pflege. In der Vorstandsarbeit der Europäischen Künstlergilde für Medizin und Kultur setzt sie sich für eine ganzheitliche Medizin ein.

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